Erwachsenenbildung: Aus Pfeiffers Werkstatt für behinderte Menschen an die Magdeburger Universität zum Schreibkurs
Erwachsenenbildung: Schreibkurs für Mensche mit Behinderung
Bärbel Soika ist 51. „Ich habe am 21. August Geburtstag, mein Freund hat am 17. September Geburtstag.“ Sagt‘s und stellt ein Foto des Freundes auf den Tisch. Neben den Schreibblock. In einem Seminarraum der Otto-von-Guericke-Universität. Jetzt ist Schreiben und Lesen angesagt. Seit Oktober 2017 bietet der Lehrstuhl Soziale Integration und berufliche Rehabilitation fünf Frauen und vier Männern aus der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) in den Pfeifferschen Stiftungen einen Schreib- und Lesekurs an, begleitet von elf Studenten.
Die Kooperation des Instituts 1 „Bildung, Beruf und Medien“ mit Pfeiffers bietet Vorteile für alle: Die Teilnehmer der WfbM bemächtigen sich der Buchstaben. Und die Studenten eines Master-Seminars mit dem Fokus integrative und inklusive Bildung können „Theorie mit Praxis verbinden, eigene Erfahrungen mit der Organisation von Bildungsprozessen für Menschen mit Behinderungen sammeln und so dem Inklusionsgedanken ein reales Umsetzungsfeld geben“, sagt Projektleiterin Dr. Marion Schulze. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Erziehungswissenschaft an der Fakultät für Humanwissenschaften, Lehrstuhl Soziale und berufliche Rehabilitation, gleichzeitig auch Beauftragte der Universität für Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und/oder Behinderungen.
So ein langer Titel mit vielen Fremdworten interessiert Bärbel Soika nicht. Eigentlich hat sie Urlaub, trotzdem ist sie in die Uni zum Kurs gekommen. Warum? Sie zeigt auf ein Blatt in ihrem Schreibblock. Da steht in großen Druckbuchstaben: „Ich möchte in die Schule gehen und die Sache lernen die ich verlernt habe Ich gebe nicht auf. Man muss es probieren. Es Macht spaß.“ Da stören die kleinen Fehler nicht. Studentin Anne Pietsch sucht das Gespräch mit ihr und merkt, heute ist nicht Bärbels Tag. Sie hat Stress zu Hause. Den muss sie loswerden, muss reden. Vollständige Sätze aber fallen ihr schwer. Wie soll sie sich da jetzt aufs Lesen und Schreiben konzentrieren? Anne Pietsch weiß, dass sie sich auf die Kursteilnehmerin wie auf die Situation immer wieder aufs Neue einstellen muss. Und so versucht sie, die aufgeregte Bärbel „runterzufahren“. Die kognitiven Beeinträchtigungen der Teilnehmer sind unterschiedlich, somit auch ihre Lernfähigkeiten und Konzentrationsprobleme.
Darauf individuell zu reagieren, mit Geduld, Empathie und Kompetenz, auch mit den Stimmungsschwankungen klarzukommen, darin sieht Anne die größte Herausforderung. Frau Dr. Schulze wird später erklären: „Unser tätigkeits- und entwicklungsorientiertes Konzept sowie die differenziert und individuell gestalteten Lernangebote ermöglichen es, die sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen zu berücksichtigen und persönliche Lernerfolge zu sichern.“ Studentin Anne berichtet nun, dass sie sich ehrenamtlich für Menschen mit kognitiven Einschränkungen engagiert. „Sie sind authentisch.“ Und das ist auch ein entscheidender Grund, warum sie nach dem Studium mit solchen Menschen arbeiten will.
Bärbel lauscht derweil den Studentinnen Nicole Beck und Barbara Gyurasits, die mit den Puppen Anna und Ben eine Geschichte rund um den Buchstaben W erzählen. Dr. Schulze erklärt die neue Übung. Jeder soll ein Wort umschreiben, das mit W beginnt: Woh-nung, Werk-zeug ... Die anderen erraten das Wort. Der Augenblick, der den Schatz der Schriftsprache erahnen lässt und damit eine Lernmotivation weckt, kann als Begegnung mit der Welt erlebt werden: Lesen als Entziffern und Entschlüsseln von Nachrichten unterstützt das Entdecken, Schreiben als Ausdruck eigenen Erlebens und Fühlens das Gestalten von Welt. Lesend werden Erkenntnisse und Wissen über die Welt gesammelt. Schreiben ermöglicht Selbstausdruck, den Körper verlängern in der Schrift, sein Innerstes nach außen kehren. Gedanken sichtbar machen. Mich sichtbar machen.
Was ist normal? Was anders? So viele Menschen, so viele Unterschiede. Haarfarbe, Aussehen, Lebensgewohnheiten: Es ist ziemlich normal, anders zu sein. Trotz Unterschiedlichkeit verbindet uns aber der Wunsch nach einem erfüllten Leben. Auch nach Bildung. Warum sollte das anders sein, nur weil einer behindert ist? Vielfalt, Menschlichkeit und Würde – gesellschaftliche Werte, für die sich Politiker, Bildungsverantwortliche und Kirche unter dem Begriff „Inklusion“ einsetzen. Ein Schlüsselwort für Frau Dr. Schulze: „Dahinter steht der Wunsch, die Gesellschaft so zu verändern, dass alle einen Platz darin haben und sein dürfen, wie sie sind. Also auch Menschen mit Behinderungen.“
Übrigens: In Deutschland gelten 7,5 Millionen Erwachsene als funktionale Analphabeten. Sie können zwar Buchstaben, Wörter und einzelne Sätze lesen und schreiben, haben aber Mühe, einen längeren Text zu verstehen. Was die Studenten hier über Sprachförderung lernen, lässt sich also sehr breit einsetzen ... Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet, dokumentarisch festgehalten und am Ende in der Masterarbeit von Katharina Pongratz münden. Ihr erstes Fazit: „Die Teilnehmer machen große Fortschritte, schneller als erwartet. Die Konzentrationsfähigkeit nimmt zu. Jeder entwickelt sich besser, wenn er 1:1 betreut wird.“
André Hocker von Pfeiffers Fachdienst Berufliche Bildung sieht ebenso Fortschritte bei den Teilnehmern. „Der Kurs stärkt auch ihr Selbstbewusstsein.“ Pfeiffers Behindertenhilfe hat einen Aktionsplan, der alles auf den Punkt bringt: „Wenn keiner mehr draußen bleiben muss, das Nebeneinander zum Miteinander wird und Menschen mit Behinderung mittendrin sind, dann ist Anderssein normal in unserer Gesellschaft.“ Ein weiter Weg, auf dem das Projekt von Uni und Pfeiffers erfolgversprechend weiterführt.
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Die Pfeifferschen Stiftungen sind mit mehr als 1.600 Mitarbeitern die größte diakonische Komplexeinrichtung in Sachsen-Anhalt. Das Klinikum in den Pfeifferschen Stiftungen, die Lungenklinik Lostau sowie ein MVZ, Ambulante Pflegedienste und Wohnangebote für Menschen mit Behinderungen oder Senioren gehören ebenso dazu, wie eine Werkstatt für behinderte Menschen mit knapp 500 Beschäftigten, stationäre und ambulante Altenpflege, Quartiersmanagement und eine in Deutschland einzigartige Hospizarbeit. Neben einer Integrationsgesellschaft (100%ige Tochtergesellschaft) gibt es ein Bildungszentrum für Gesundheits- und Pflegeberufe (50% Beteiligung) sowie ein Kinderzentrum (50% Beteiligung).
Neben einem kostenfreien Infotelefon zum Thema Demenz bieten die Stiftungen auch ein Beratungstelefon zur palliativen Versorgung an.