Chronisch Schmerzkranke sind keine Hypochonder

Im Kopf, im Rücken, in der Muskulatur: Chronischer Schmerz hat viele Ursachen. Oft als "perfider Lebenspartner" empfunden, mischt er sich überall ein. Die Psyche kann leiden, die Arbeit, die Beziehung.

Kennen Sie das? Wummernde Kopfschmerzen, Stechen im Rücken oder drückende Bauchschmerzen? Wie schön wäre ein Leben ohne ganz Schmerzen! Wirklich?

Schmerz ist ein Warnsystem, das einen Defekt signalisiert. Versagt es, können die Konsequenzen lebensbedrohlich sein. Gerät es außer Kontrolle, verliert der Schmerz seine Alarmfunktion. Und wird dann oft als "perfider Lebenspartner" empfunden, der sich in alles einmischt: Die Psyche leidet, der Job, die Beziehung.

Der Schmerz ist, so weiß man heute, vor allem das Ergebnis lebhafter Kommunikation. Nervenzellen aus Körper, Rückenmark und verschiedene Hirnregionen, etwa dem limbischen System, dem Gefühlszentrum des Gehirns, aktivieren und hemmen einander in einem komplizierten Wechselspiel.

Zum Beispiel, wenn wir auf eine heiße Herdplatte fassen und die Hand automatisch zurückziehen, das tut weh. Wenn wir mit dem Fahrrad stürzen, das eine Knie blutet, das Bein bis zum Knöchel schmerzt, dann ahnen wir, dass wir neben der Schürfwunde noch eine Prellung haben. In leichten Fällen können wir uns selbst helfen und wenn nicht, gehen wir zum Arzt. Das ist dann ein akuter Schmerz, der Stunden dauert, manchmal Tage. Und mit einem konkreten Auslöser verbunden ist.

In hochkonzentrierten Momenten kann der Körper Hormone ausschütten, die den Schmerz fast vollkommen unterdrücken - und der Fußballer etwa beendet das Spiel mit angebrochenem Arm. Akuter Stress wirkt schmerzhemmend. Da gibt es viele Beispiele aus dem Sport, auch über verletzte Soldaten oder Opfern von Verkehrsunfällen, die den Schmerz der Verletzung zunächst nicht spüren. Umgekehrt fördert Dauerstress die Chronifizierung von Schmerzen.

Was aber ist, wenn der Schmerz immer wieder durch jeden Winkel des Körpers kriecht, Tag und Nacht, ohne erkennbare Ursache? Dann ist nicht mehr der Auslöser - etwa eine Verletzung - das Problem, sondern der Schmerz selbst wird zur Krankheit. Die Schmerzfilter im Körper gehen verloren. Das Rückenmark beginnt, empfindlicher auf Schmerzreize zu reagieren. Synapsen, die sonst lahm liegen, werden aktiv. Nervenfasern sprießen aus, Verbindungen werden neu geknüpft. Mit einem Mal gelangen Reize ins Hirn, die vorher unterdrückt wurden. Durch die permanenten Impulse verändert sich das Nervenzellgeflecht. Es lernt eine besondere Feinfühligkeit. Ein Schmerzgedächtnis entsteht.

Unser Gehirn macht Schmerz fühlbar. Immer verknüpft eine Schaltstelle in der Hirnrinde das Schmerzgefühl mit der Erinnerung an die Umstände, unter denen es schon einmal weh tat. Immer bewertet das limbische System, ob ein Stich, ein Stoß oder Druck angenehm oder unbehaglich wirkt. Und immer entscheidet vorab das Rückenmark, ob ein Reiz weitergeleitet wird.

Dauert der Schmerz mehr als drei Monate an, spricht man von chronischem Schmerz. Und der hat keine Warnfunktion mehr.

Der Schmerz entspringt einem fein ineinander verwobenen Gefüge aus Körperreaktionen, Psyche und Lebensumständen. Alle miteinander bestimmen, ob, wann und wie stark wir Schmerz empfinden. "Viele Faktoren beeinflussen die persönliche Schmerzschwelle", sagt Dr. Tobias Petz, Oberarzt der stationären Schmerztherapie in der Klinik für Anästhesiologie, Intensivtherapie und Schmerztherapie im Klinikum der Pfeifferschen Stiftungen. "Schon eine Schürfwunde kann unterschiedlich intensiv empfunden werden. Es gibt keine Schmerzwahrnehmung ohne psychische Verarbeitung."

Chronischer Schmerz gilt als Volkskrankheit. Aus keinem anderen Grund gehen Menschen häufiger zum Arzt. In Deutschland leiden 12 bis 15 Millionen an länger andauernden oder wiederkehrenden Schmerzen, vier bis fünf Millionen sind deshalb stark beeinträchtigt. So das Ergebnis einer Umfrage im Europäischen Weißbuch Schmerz von 2010. Schmerz ist ein komplexes Thema, deshalb beschäftigen sich damit auch Fachrichtungen wie Neurologie, Anästhesie, Orthopädie, Psychologie, Physiotherapie, Palliativmedizin und Psychosomatik.

Für jede Form von Schmerz gilt: Dauert er an, können Ängste und Depressionen zu Begleitern werden. "Aber auch seelische Probleme können chronische Schmerzen verursachen." Deshalb gehört zu Diagnose und Therapie chronischer Schmerzen immer auch eine ausführliche Anamnese, also das Gespräch mit dem Patienten.

Warum ist es für Patienten mit chronischen Schmerzen, die keine körperlichen Ursachen haben, so kompliziert, die richtige Hilfe zu finden? Dr. Petz: "Psychische Belastungen können in Form von körperlichen Beschwerden zutage treten, als Ventil. Traumatische Erfahrungen etwa können eine chronische Schmerzerkrankung fördern. Für Betroffene ist das sehr schwer, denn besonders diese Form ist oft mit einem langen Leidensweg verbunden. Sie fühlen Schmerzen im Kopf, im Bauch, in der Brust und beschreiben das dem Arzt so. Dieser sucht in der Regel nach entsprechenden Erkrankungen, seelische Gründe kommen zunächst meist nicht in Frage. Was aber auch mit an den Patienten liegt. Sie wollen nicht als Hypochonder dastehen. Und erst einmal nicht über Belastendes reden und verdrängen das - was den Schmerz verschlimmern kann."

Was tun gegen chronischen Schmerz? "Es gibt nicht das eine Verfahren gegen den Dauerschmerz. Der Grund liegt in der Vielfältigkeit des Phänomens selbst, da chronische Schmerzen durch viele komplexe Faktoren beeinflusst werden", so Dr. Petz und listet einige Verfahren auf:

  • die medikamentöse Schmerzbehandlung;
  • ausgewählte physiotherapeutische Verfahren wie Krankengymnastik, Stromanwendungen, manuelle Therapie oder Osteopathie;
  • psychologisch-psychotherapeutische Verfahren wie Gespräche, Psychoedukation, verschiedene Entspannungsverfahren, Hypnose, Biofeedback;
  • ergotherapeutische Verfahren wie motorisch-funktionelle Behandlungen, Wärmeanwendungen, Sensibilitätstrainig etc.;
  • auch zunehmend komplementäre Verfahren wie Akupunktur.

"Für jeden Patienten muss die richtige Mischung gefunden werden." Die Pfeifferschen Stiftungen bieten die Multimodale Schmerztherapie an. "Dabei werden die Bausteine medikamentöse Therapie, umfassende Information und Schulung des Patienten, körperliche Aktivierung, Physiotherapie und Ergotherapie sowie psychotherapeutische Verfahren kombiniert. Wir arbeiten interdisziplinär nach dem bio-psycho-sozialen Konzept."

Was halten Sie vom Spruch: Indianer kennen keinen Schmerz? Dr. Petz: "Nichts! Ein Schmerz ist möglicherweise ein Warnzeichen für eine Organschädigung oder eine ernste Erkrankung. Auch chronischer Schmerz, der keine Signalfunktion mehr hat, muss grundsätzlich ernst genommen und behandelt werden."